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Schreibweisen der Gegenwart: Vom doomscrolling zum deep reading. Zeit und Lektüre nach der Digitalisierung

Workshop
Foto: Magdalena Pflock

Lesen ist auf mehreren Ebenen unmittelbar mit Fragen der Zeit verbunden. Der Workshop fragt, wie es sich mit dieser Kopplung nach der Digitalisierung verhält.

Konzept und Organisation: Dr. Elias Kreuzmair
Anmeldung: elias.kreuzmair@uni-greifswald.de

Lesen ist auf mehreren Ebenen unmittelbar mit Fragen der Zeit verbunden: 1. in der Frage nach Zeitpunkt und Dauer des Lesens, 2. in der Frage nach Geschwindigkeit und Rhythmus des Lesens, 3. in der Frage nach der Zeiterfahrung im Leseprozess. Auf all diesen Ebenen sind in Bezug auf das Lesen und im Reden über das Lesen nach der Digitalisierung Verschiebungen festzustellen. So berühren etwa die Veränderungen in der Wahrnehmung von Gegenwart im gegenwärtigen Digitalisierungsdiskurs (vgl. Schumacher 2021) nicht nur das Schreiben, sondern genauso das Lesen. Häufig werden – etwa in Hans Ulrich Gumbrechts Unsere breite Gegenwart (2010) oder Byung-Chul Hans Im Schwarm (2013) – digitale gegen analoge Leseszenen gestellt und mit konträren Gegenwartserfahrungen gekoppelt. Auch die Formel „tl;dr“ („too long; didn’t read“) auf Social Media, die Diskussionen über doomscrolling (Sharma/Lee/Johnson 2022) oder deep reading (Wolf 2018, Carr 2010) deuten auf je unterschiedliche Weise auf bestimmte Kopplungen von Lektüre und Zeitkonzepten.

In Bezug auf neue Formen professionellen Lesens – im Verhältnis von close reading und distant reading – spielt der Aspekt ebenfalls eine Rolle: Mit digitalen Verfahren ist es möglich, eine Menge von Texten in kurzer Zeit auszuwerten, deren Lektüre die Lebenszeit eines Menschen übersteigen würde. Der Workshop setzt in Bezug auf diese Fragen der Zeit auf zwei Ebenen an: Zum einen bei der Beobachtung konkreter „Szenen des Lesens“ (Griem 2021) und zum anderen in der Analyse der Verfahren, Figuren und Metaphern im Schreiben über das Lesen. Dafür bietet sich reichlich Material: Vom „Ende der Gutenberg-Galaxis“ (Bolz 1993) bis zur „Stavanger-Erklärung“ (2019) begleitet die Frage nach der Veränderung von Lesepraktiken im Kontext digitaler Medien den Digitalisierungsdiskurs seit Jahrzehnten. Auch im wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Diskurs wird das Thema immer wieder aufgegriffen (zuletzt etwa Wolf 2018, Lauer 2020, Wilke 2022, Bickenbach 2023). Nicht zuletzt ist an literarische Leseszenen im Kontext des Digitalen, etwa bei Eugen Ruge, Terézia Mora oder Julia Zange, zu denken. In fast allen diesen Texten laufen die angesprochenen Fragen nach den Zeiten des Lesens im Hintergrund mit, selten wird der Fokus jedoch direkt auf sie gerichtet. Der Workshop nimmt diesen zentralen Aspekt der Reflexion über das Lesen nach der Digitalisierung nun gezielt in den Blick.
 

Programm

10.00 Uhr        Elias Kreuzmair (Greifswald)
Begrüßung und Einleitung

10.30 Uhr        Erika Thomalla (München)
Speed reading, ohne Druck. Lektürestrategien in Social-Reading-Communities

11.30 Uhr        Franziska Wilke (Frankfurt/Oder)
Zeiterfahrung und Lektüre: Kontinuitäten und Brüche in der digitalen Lesepraktik. Susanne Berkenhegers „Zeit für die Bombe“, Tilmann Rammstedts „Morgen Mehr“ und „Der Mauerfall und ich" (BpB) im Vergleich

Moderation: Philipp Ohnesorge

12.30 Uhr        Mittagspause

14.00 Uhr        Elias Kreuzmair (Greifswald)
Manisch lesen, hektisch klicken, alles wissen. Zur Gegenwart der Lektüre in digitalisierungskritischen Zeitdiagnosen

15.00 Uhr        Matthias Bickenbach (Köln)
Vielfalt oder Einfalt? Lesen in digitalen Dystopien. Thomas Raabs „Die Netzwerk-Orange“ und Eugen Ruges „Follower“

16.00 Uhr        Kaffeepause

16.30 Uhr        Kristina Petzold (Bielefeld)
Zurück in die Zukunft? Zur Gegenwärtigkeit digitaler Lesepraktiken am Beispiel der Stilometrie

Moderation: Eckhard Schumacher

17.30Uhr        Pause

18.00 Uhr        Heilige Schrift I
Lesung und Gespräch mit Wolfram Lotz
Moderation: Elias Kreuzmair

 

Bickenbach, Matthias: Bildschirm und Buch. Versuch über die Zukunft des Lesens. Berlin 2023.

Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München 1993.

Carr, Nicholas: The Shallows. What the Internet Is Doing To Our Brains. New York 2010.

Griem, Julika: Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung Bielefeld2021.

Evolution of Reading in the Age of Digitisation (E-READ) (Hg.), Stavanger Declaration Concerning the Future of Reading. Stavanger 2019, [https://ereadcost.eu/wp-content/uploads/2019/01/StavangerDeclaration.pdf, letzter Zugriff: 11.01.2023].

Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Berlin 2010.

Han, Byung-Chul: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013.

Lauer, Gerhard: Lesen im digitalen Zeitalter. Darmstadt 2020.

Sharma, Bhakti/Susanna S. Lee/Benjamin K. Johnson: The Dark at the End of the Tunnel: Doomscrolling on Social Media Newsfeeds. In: Technology, Mind, and Behavior (3/1) 2022. DOI: doi.org/10.1037/tmb0000059.

Schumacher, Eckhard: Gegenwartsvergegenwärtigung. Über Zeitdiagnosen, literarische Verfahren und Soziale Medien In: Elias Kreuzmair/Eckhard Schumacher (Hg.): Literatur nach der Digitalisierung. Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen. Berlin 2021, S. 7–31.

Wilke, Franziska: Digital lesenWandel und Kontinuität einer literarischen Praktik. Bielefeld 2022.

Wolf, Maryanne: Reader, Come Home: The Reading Brain in a Digital World. New York 2018.

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