Was erforscht man, wenn man Sekten erforscht? Ein Beispiel und vier Antworten aus Russland des 19. Jahrhunderts

Das Phänomen der christlichen Sekten ist so alt wie das Christentum selbst. Jahrhundertelang gehörten Sekten zum Zuständigkeitsbereich der Theologie und der Kirchengeschichte, erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es auch soziologische, psychologische und historische Sektenforschung. Doch das Interesse galt vor allem den Sekten des lateinischen Christentums, während das Ostchristentum mit seinen Sekten bis heute selten behandelt wird. Der Vortrag gibt einen Einblick in die Lebenswelt der Skopcy (Verschnittene), die sich im 18. Jahrhundert von der Russischen Orthodoxen Kirche abspalteten und im 19. Jahrhundert für große Aufmerksamkeit sorgten. An diesem Beispiel wird gezeigt, welche theoretisch-methodischen Erklärungs- und Sinngebungsversuche in der Sektenforschung existieren, welche Aspekte sie zur Geltung bringen, welches theoretische Vorverständnis und normative Wunschdenken sie in die Sekten hineinprojizieren, und welches explanatorische Potenzial von ihnen zu erwarten ist. Wenn die These stimmt, dass Sekten konstruierte Erkenntnisobjekte sind, dann wäre die folgende Frage berechtigt: Was erforscht man eigentlich, wenn man Sekten erforscht?

Agnieszka Zagańczyk-Neufeld ist akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Sie studierte Politikwissenschaft an der Universität Warschau und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Als Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung promovierte sie am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum mit der Dissertation Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976-1997, die 2014 veröffentlicht wurde. In ihrem aktuellen Habilitationsprojekt forscht sie über Sekten in Russland 1800-1917 als eine Sozialgeschichte der Glaubensfreiheit. Im akademischen Jahr 2021/22 ist sie Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald.

Moderation: Professor Dr. Mathias Niendorf


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