Professorin Dr. Judith Gärtner

Alfried Krupp Senior Fellow
(Oktober 2021 - September 2022) 

  • Studium der Evangelischen Theologie in Marburg und Münster sowie Studium der Judaistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem
  • Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Altes Testament in Marburg, Hamburg und Siegen, danach Professorin für Altes Testament und Antikes Judentum in Osnabrück
  • Professorin für Altes Testament an der Universität Rostock

Fellow-Projekt: „Resilienz in der Krise. Ps 35-41 als paradigmatische Existenzdeutungen im Psalter“

Vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2 Pandemie, in der das Narrativ postmoderner Gesellschaften von Machbarkeit und Selbstbestimmung erschüttert worden ist, knüpft das Fellow-Projekt an einen interdisziplinären Resilienzdiskurs an, in dem Resilienz als ein dynamischer Prozess in Krisensituationen verstanden wird und Ambivalenzerfahrungen im Umgang mit der Krise einschließt. Solche gesellschaftlichen Krisensituationen, die von Ambivalenzerfahrungen des Einzelnen sowie der Gesellschaft bestimmt sind, sind historisch betrachtet keine neuen Erfahrungen, sondern typische Krisenphänomene, wie sie bereits in antiken Texten reflektiert werden. Insbesondere die Gebetstexte in der Hebräischen Bibel, die Psalmen, bieten hier ein reichhaltiges Reservoir.
n verdichteter Weise findet sich eine Vielschichtigkeit solcher antiker Krisenreflexionen in den Psalmen 35-41, die im Mittelpunkt meines Forschungsprojektes stehen. Diese Psalmen sollen in einer Monographie historisch, anthropologisch und theologisch untersucht und mit dem Resilienzdiskurs interdisziplinär verbunden werden. Ziel ist es, die Ps 35-41 als literarisch reflektiertes und paradigmatisches Beispiel für Existenzdeutungen in der Krise zu profilieren, weil hier die Ambivalenzen von Krisenerfahrungen zwischen Angst, Ohnmacht, Mut- und Hoffnungslosigkeit so zur Sprache gebracht werden, dass die in den Texten inszenierte Krisenbewältigung im Spannungsfeld zwischen Aushalten und Gestalten beschrieben werden kann. Vor diesem Hintergrund können dann die historisch analysierten Semantiken der Psalmen sowie ihre entfalteten Existenzdeutungen im interdisziplinären Gespräch auf ihre Gegenwartsrelevanz für den Umgang mit der SARS-CoV-2 Pandemie hin befragt werden.


Ergebnisse des Fellowships

I Ps 35-41 als paradigmatische Existenzdeutungen im Psalter
In meinem Fellowprojekt habe ich den interdisziplinär geführten Resilienzdiskurs aufgenommen und für die Bearbeitung alttestamentlicher Texte fruchtbar gemacht. Insofern ist mein Projekt grundlegend interdisziplinär ausgerichtet. Mit meinen Kolleg:innen der Bonner DFG Forschungsgruppe 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ aus Medizin, Psychologie, Philosophie und Theologie haben wir ein eigenes Modell individueller bzw. personaler Resilienz entwickelt und eine disziplinenübergreifende Grundlage zum Verständnis von Resilienz erzielen können. Darauf erfolgte dann die Erprobung des Modells als Interpretationsrahmen für alttestamentliche Gebetstexte.
Daher waren die ersten Monate meines Fellowships auch sehr stark von der Mitarbeit an der Entwicklung eines solchen Modells geprägt. Unser Modell versteht Resilienz als einen dynamischen Prozess, in dem sich Identität und Integrität einer Person zwangsläufig transformieren und sich über die Transformationen jeweils neu aufbauen (trajectories). Identität ist dabei sowohl individuell verstanden als auch in ihrer über Kultur und Kollektive vermittelten Konstitution und Entwicklung. Ihre Dimensionen werden körperlich, psychisch, sozial und spirituell bestimmt. Dazu gehören Dispositionen und Ressourcen sowie Vulnerabilität, die eine Person bereits vor den für den Resililenzverlauf entscheidenden Krisenauslösern bzw. krisenhaften Ereignissen mitbringt und die eine Grundlage für die sich anschließende Entwicklung (im positiven wie im negativen Sinne) darstellen. Durch einen Krisenauslöser, sei er instantan oder akkumuliert, wird ein Krisenprozess in Gang gesetzt, der durch eine Offenheit bezüglich des Ausgangs gekennzeichnet ist, dessen Intensität sich aber bei gelingender Resilienz allmählich reduziert. Im Krisenprozess selbst zentral sind aus unserer Sicht Aspekte der Wahrnehmung von und des Umgangs mit Ambivalenzen und Ambiguitäten, das Ringen mit Destruktivität, und der Aufbau und/oder Erhalt von Hoffnung. Ihre Bearbeitung erfolgt in Prozessen bzw. mithilfe von Fähigkeiten und Interaktionsformen, die Aspekte der personalen Identität darstellen oder im Verlaufe dazu werden können. Für den Krisenausgang sind in unserer Forschungsgruppe Aspekte von Kohärenz, Sinnerleben und Narrativen maßgeblich. Das Narrativ deutet die individuelle Erzählung der Krise sowie damit verbunden auch die Wahrnehmung des Krisenausgangs. Zugleich sind diese Deutungen auf den Prozess der Krisenbewältigung so bezogen, dass das Ausbuchstabieren des Narrativs in der Narration und ebenso die Narration selbst auch nach dem Krisenausgang situativ angepasst werden können.

Auf der Basis dieses Modells habe ich dann Interpretationskategorien für die exegetische Erschließung alttestamentlicher Gebetstexte erarbeitet. Methodisch liegt ein narratologischer Zugang zu Grunde. Es geht um einen funktionalen Narrativbegriff. Dabei liegt der Fokus auf der Textstruktur und Form, der sprachlich-syntaktischen Gestaltung und den

Semantisierungen sowie der narrativen Gestaltung. Vor allem die Analyse von Begriffen und Metaphern eruiert Mehrdeutigkeiten und Implikaturen. Dies bedeutet: Mittels Erzählstimmen und (konkurrierenden) Perspektiven wird das Geschehen spezifisch präsentiert und gewertet. Raumsemantiken und das Verhältnis von historischer Zeit und erzählter Zeit, Abweichungen von einer linearen Erzählordnung, etwa Retardierung, Zeitsprünge oder Prolepsen, konfigurieren einen Prozess und inszenieren das Miteinander von Bedrohung und Hoffnung. Auch Fokalisierungen und Figurencharakteristik tragen bei zur Vermittlung (pluraler) Identifikationsangebote. Leerstellen und Unbestimmtheitsstellen ermöglichen es, die Narrativierungen mit individuellen Erfahrungen zu verbinden.

Inhaltlich habe ich bei den in den Texten zum Ausdruck gebrachten Krisenerfahrungen angesetzt. Denn gesellschaftliche und individuelle Krisensituationen, die von Ambivalenzerfahrungen des Einzelnen sowie der Gesellschaft bestimmt sind, sind historisch betrachtet keine neuen Erfahrungen, sondern typische Krisenphänomene, wie sie bereits in antiken Texten reflektiert werden. Insbesondere die Analysen zu Ps 35; 36; 38 haben gezeigt, welches Reflexionspotential die Texte erhalten, um Krisensituationen zum Ausdruck zu bringen. Ps 38 entfaltet eine Situation lebensbedrohender Krankheit, in der sich das Sprecher-Ich des Textes seiner Todesnähe bewusst ist. Über Fokalisition, Perspektivität und Erzählstimmen können die unterschiedlichen Dimensionen des Krankseins eruiert werden, so dass die Multiperspektivät von sozialen, körperlich, psychischen und emotionalen Dimensionen im Kranksein in ihrer gegenseitigen Bezogenheit aufeinander analysiert werden konnten. Demgegenüber setzt Ps 35 bei der Erfahrung sozialen Unrechts und Ausgrenzung an und reflektiert, dass und wie die Situation sozialer Ausgrenzung körperlich und psychisch krank macht. Ps 36 wieder ist anders gelagert. Hier wird ein entscheidender Perspektivwechsel eingezogen, indem das Sprecher- Ich sich selbst und seine destruktiven Potentiale reflektiert. Zum Arbeitsstand kann Folgendes festgehalten werden:

Arbeitsstand zum Resilienzdiskurs

  • Präsentation der Ergebnisse gemeinsam mit dem Kollegen aus der Philosophie Prof. Dr. Thiemo Breyer (Köln) im Rahmen der Jahrestagung der FOR „Resilienz in Spiritualität und Religion“. Das Manuskript wird zur Drucklegung vorbereitet.
  • Eröffnungsvortrag der internationalen Tagung „Resilience: Psalms and/or Prophetic Literature“, die als digitale Konferenz von der Theologischen Fakultät Pretoria vom 1.9.-2.9.22 durchgeführt wird.
  • DFG-Antragstellung zu Resilienz als gesamtbiblisches Phänomen gemeinsam Prof. Dr. Christine Gerber, Neues Testament, HU Berlin (Einreichung des Antrags Ende 2022)

Arbeitsstand zur Psalmengruppe Ps 35-41

  • Die Erschließung des Materials ist weitgehend abgeschlossen. Zu den Psalmen 35, 36, 37, 38, 39 liegen umfangreiche literarhistorische und traditionsgeschichtliche Analysen vor. Bisher noch nicht abschließend bearbeitet sind Ps 40 und Ps 41.
  • Die Analysen zu Ps 35-37 sind in verschiedenen Forschungskolloquien diskutiert sowie auf der Fachgruppentagung der Wissenschaftlichen Gesellschaft im Februar 2022 präsentiert worden.
  • Zu dieser Psalmengruppe (Ps 35-37) ist das Manuskript abgeschlossen und wird unter dem Titel „Ein Vademecum im Umgang mit Abgründigkeit“ für den Druck vorbereitet. Publiziert werden die Ergebnisse in einem Sammelband, der in der Reihe der WGTh der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig, 2023 erscheinen wird.
  • Die Arbeiten zu Ps 38f sind ebenfalls in verschiedenen Forschungskolloquien diskutiert worden. Die Arbeit am Manuskript ist auch hier abgeschlossen.

II. Monographieprojekt „Wer ist wie JHWH, unser Gott?“ (Ps 113,5) - Eine Untersuchung zu Theologie und Komposition der Psalmen 113-118

Über den mit Thiemo Breyer (Universität Köln) entwickelten Begriff der Perspektivenkompetenz als eine Resilienzstrategie sind neben der für das Projekt angegebenen Psalmenguppe Ps 35-41 noch weitere Psalmen in den Blick geraten, so dass die Materialbasis über das Jahr vergrößert werden musste. Berücksichtigt habe ich zunächst die beiden Ps 116 und Ps 118, die sich als Danklieder von den zuvor behandelten Texten unterscheiden, weil sie vor allem neben der Reflexion auch die rituelle Praxis als Krisenbewältigung aufweisen. So zeichnet sich die in dem Dankgebet beschriebene Perspektivenkompetenz zunächst durch die literarisch inszenierten Wechsel der Perspektiven auf die Krise aus, die unterschiedliche Sinnpotentiale im Bewältigen der Krisen eröffnen. Denn die im Danklied explizit eingenommene Retrospektive auf die Krise, wie sie im Erinnern und Erzählen von Not und Rettung entfaltet wird, bleibt nicht auf den Rückblick beschränkt, sondern wird in ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft der betenden Person entfaltet. Dadurch verdichten sich im Dankgebet die Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die in der Krise gemachte destruktive soziale Erfahrung wird so in die Lebensgeschichte integriert, dass sie die Fragilität des Lebens offenhält und im Angesicht der Rettung zur Ambiguitätstoleranz herausfordert. Hinzu kommt die Verschränkung von individueller und kollektiver Perspektive der Krisenerfahrung, die insbesonders auch in der rituellen Praxis zum Tragen kommt. Dieser Wechsel zwischen den Perspektiven trägt zur Bewältigung der Krise bei, indem durch ihn die Hoffnung bekräftigt wird, auch zukünftigen Krisen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, weil das Leben als lebenswert und kohärent erfahren wird.

Nun sind die beiden Danklieder Ps 116 und Ps 118 in den literarischen Kontext des sogenannten ägyptischen Hallels eingebunden. Zum ägyptischen Hallel gehören die Ps 113-118, in denen durch die Erinnerung von Rettungserfahrungen die Gottesfrage gestellt wird. Die beiden Danklieder Ps 116 und Ps 118 müssen daher, um ihre Bedeutungsdimensionen umfänglich erheben zu können, unter Berücksichtigung ihres literarischen Kontextes ausgewertet wer- den. Daher bot es sich an, auf der Basis meiner Vorarbeiten zu dieser Psalmengruppe eine Monographie auszuarbeiten.

Ziel der Monographie ist es, die Komposition und literarische Genese der Psalmengruppe aufzuzeigen. Da die Lesung des ägyptischen Hallels am Sederabend des Pessachfestes bis heute den bewusst gestalteten literarischen Zusammenhang dieser Psalmengruppe belegt, stellt das ägyptische Hallel ein frühes Zeugnis für die Rezeption von Psalmengruppen dar.

Erscheinen wird die Untersuchung bei Vandenhoeck & Ruprecht in der Reihe „Biblisch-Theologische Studien“. Die Arbeit am Manuskript ist abgeschlossen. Es umfasst neben einer Einleitung Kapitel zu Ps 113-118. Hinzu kommen zwei Kapitel zu übergreifenden Themen: literarhistorische Genese der Psalmengruppe und Ethik.

Die Studie hat folgenden Aufbau:

  • Kapitel 1: Rettung erinnern - Zur theologiegeschichtlichen und psalterkompositorischen Bedeutung von Geschichte in den späten Psalmen am Beispiel der Psalmengruppe 113-115
  • Kapitel 2: „aus dem Schmutz lässt er den Armen sich erheben“ (Ps 113,7) - Überlegungen zu einer Ethik in den Psalmen am Beispiel von Ps 113 und Ps 78
  • Kapitel 3: Jhwh und die Völker im ägyptischen Hallel in Ps 115 und Ps 117
  • Kapitel 4: Was können mir Menschen tun?“ (Ps 118,6) - Zur theologischen und redaktionskritischen Vielschichtigkeit der Rettungsschilderungen in Ps 118
  • Kapitel 5: Vom Tod zum Leben - Das Danklied als Ort theologischer Reflexion (Ps 116)
  • Kapitel 6: Eine Frage der Gerechtigkeit? Zur Bedeutung der Gnadenformel für die Psalmengruppe 111–118
  • Kapitel 7: Der Gott entsprechende Mensch in Ps 111–112 und Ps 119
  • Kapitel 8: Wer ist wie JHWH, unser Gott?“ (Ps 113,5) – das ägyptische Hallel als literarhistorische Komposition

Erscheinen wird die Untersuchung im Frühjahr 2023.

Zudem habe ich das gemeinsame gemeinsamen Forschungskolloquiums der Theologischen Fakultäten Greifswald und Rostock am 1.6.22 im Krupp Kolleg durchgeführt. Zusätzlich zu der Arbeit an meinen Projekten habe ich meine Funktion als Vorsitzende des Evangelisch-Theologischen weiter ausgeübt und die Leitung der entsprechenden Gremien in der Schnittstelle von Wissenschaft und Kirche wahrgenommen.

Schließen möchte ich meinen Bericht mit dem ausdrücklichen Dank an die Alfried-Krupp-Wissenschaftsstiftung, die mir dieses Jahr des konzentrierten Arbeitens an meinen Projekten ermöglicht hat.