Dr. Agnieszka Zaganczyk-Neufeld

Alfried Krupp Junior Fellow
(Oktober 2021 - September 2022) 

  • Studium der Politikwissenschaft und der Kulturwissenschaften an der Universität Warschau und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)
  • Promotion im Fach Geschichte in Marburg und Bochum
  • Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum

Fellow-Projekt: Sekten in Russland 1800-1917. Eine Sozialgeschichte der Glaubensfreiheit

Der sozial und politisch bedeutsame religiöse Dissens war nicht nur für westeuropäische und US-amerikanische Gesellschaften charakteristisch. Abweichler von der Russisch-Orthodoxen Kirche machten am Ende des 19. Jahrhunderts ca. zehn Prozent der Bevölkerung Russlands aus. Das Projekt nähert sich diesem Phänomen aus einer sozialgeschichtlichen und praxeologischen Perspektive und versteht dieses als einen sozialen Emanzipations- und Pluralisierungsprozess. Da religiöse Dissidenten in Russland keine ausgeprägte Schriftkultur entwickelt haben, widmet sich das Projekt religiös motivierten sozialen Praktiken, die auf fünf Handlungsebenen analysiert werden: Flucht und Migration, Körperpraktiken, Wirtschaftspraktiken, Kriegsdienstverweigerung, und gesellschaftsstabilisierende Normbildung. Die Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zu der immer noch defizitären Forschung zur Freiheitsgeschichte in Russland.


Ergebnisse des Fellowships

Im Mittelpunkt meines Junior-Fellowships stand die Arbeit am Manuskript meiner Habilitation zum Thema: Sekten in Russland 1800-1917. Eine Sozialgeschichte der Glaubensfreiheit. Die Arbeit an dem Habilitationsprojekt begann im Oktober 2015 und ist im Rahmen der Stelle als Akademische Rätin auf Zeit auf sechs Jahre angelegt. Aufgrund der Pandemie sowie des Fellowships wurde meine Stelle bis April 2024 verlängert, was eine sehr gute Perspektive für einen erfolgreichen Abschluss der Habilitation bietet.

Die Nutzung des Sektenbegriffs ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung umstritten. Dagegen spricht dessen diffamierende Herkunft als innerkirchlicher Kampfbegriff. Andererseits enthält der Sektenbegriff die aufgeladene soziale Spannung zwischen Konformität und Abweichung, mit allen Konsequenzen für die Abweichler. Er beschreibt den Konflikt zwischen Institutionen, die versuchen, das Soziale zu homogenisieren, und Menschen, die versuchen, sich aus dieser Homogenisierung zu befreien. Sekte wird im Projekt als eine in jedem christlich geprägten Gesellschaftssystem vorhandene abweichende Handlungsmöglichkeit, ein gesellschaftlicher Wissensbestand definiert, auf welche zugegriffen wurde, um sich aus einer Situation zu befreien, die in der subjektiven Wahrnehmung der Mitglieder als Krise, Unterdrückung, Einsamkeit oder Sinnlosigkeit des bisherigen Lebensweges gesehen wurde.

Die Vorarbeiten für das Buch waren zum Zeitpunkt des Antritts des Fellowships weit vorangeschritten. Das geplante Buch besteht aus drei Kapiteln:

  1. Sekten: Terminologische Heterogenität und problematische Forschungslage
  2. Befreiungspraktiken der Sektierer in Russland im 19. Jahrhundert
    1. Flucht, Aussiedlung und Migration
    2. Wirtschaftspraktiken
    3. Körperpraktiken
    4. Wehr- und Kriegsdienstverweigerung
  3. Sekten und die Sozialgeschichte der Glaubensfreiheit
    1. Freiheitsverständnis der unteren Schichten in Russland
    2. Auswirkungen der sektiererischen Befreiungspraktiken auf die staatlich-rechtliche Normbildung

Während des Fellowships habe ich das Kapitel 1. abgeschlossen sowie wichtige Skizzen zu den Kapiteln 2.3 und 3.2 getätigt. Sehr bereichernd waren dabei vor allem die Gespräche mit meinen auf die Theologie spezialisierten Co-Fellows, deren wertvolle Hinweise eine wichtige Begriffsschärfung im Kapitel 1 ermöglichten.

Besonders am Herzen lag und liegt mir das Kapitel 2.2, da es sich mit einer Frage beschäftigt, die auch für die westeuropäische Geschichte von zentraler Bedeutung ist: Waren religiöse Dissidenten trotz oder wegen ihrer abweichenden Haltung wirtschaftlich so erfolgreich? Was nämlich auf westeuropäische oder US-amerikanische Dissidenten und Denominationen zutrifft, trifft auch auf die Sekten in Russland zu: die meisten von ihnen genossen mehr Wohlstand als ihre russisch-orthodoxen Nachbarn. Allerdings ist die Suche nach entsprechenden Quellen in russischen Archiven sehr mühsam, da die Wirtschaftsdaten im 19. Jahrhundert in Russland nicht im Hinblick auf die Sekten erhoben wurden. Es finden sich zwar Daten über die Altgläubigen (starovery). Diese werden aber in der russlandbezogenen Forschung nicht als eine Sekte definiert, sondern entsprechen eher solchen Formen wie Denominationen oder Freikirchen, die es aber in Russland nicht gibt. Für die Sekten, mit welchen ich mich befasse, sind Wirtschaftsinformationen dagegen „Glückstreffer“ bei der Durchsicht der Quellen. Da es zu diesem Thema kaum archivgestützte Forschung gibt, habe ich noch bei der Bewerbung um das Fellowship eine Archivreise nach Russland geplant, die aus dem zu diesem Zeitpunkt bereits bewilligten Reisestipendium der DFG finanziert werden sollte.

Aufgrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind Reisen nach Russland für unabsehbare Zeit unmöglich. Ich war gezwungen, das Kapitel 2.3 und einige weitere Fragmente der Arbeit entsprechend der neuen Situation umzudenken. Ich habe mich verstärkt der Presse aus dem 19. Jahrhundert gewidmet, die zu einem bedeutenden Teil digitalisiert sind. Als Quellenbasis ist die Presse leider nicht optimal, da sie im gesamten Untersuchungszeitraum einer starken Zensur unterlag. Da es für mich jedoch sehr wichtig ist, das Habilitationsprojekt zeitnah abzuschließen, habe ich beschlossen, mit der Gesamtsituation pragmatisch umzugehen.

Sehr hilfreich dabei waren die zahlreichen Impulse, die ich dank der interdisziplinären, sehr kollegialen Zusammenarbeit gewann. In Gesprächen mit meinen Co-Fellows konnte ich bestimmte Aspekte meiner Arbeit aus einer interdisziplinären und entfernten Perspektive sehen, was besonders bei der kriegsbedingten Umgestaltung des Buches sehr produktiv war. Besonders die Tipps von erfahrenen Seniorfellows, die bereits mit vielen Forschungsschwierigkeiten zu tun hatten, waren sehr ermutigend und haben mir gezeigt, dass es in der Forschung immer unvorhersehbare Probleme geben kann, die gemeistert werden wollen. Ich denke, dies war eine der wichtigsten Erfahrungen, die für meinen späteren Weg sehr prägend sein wird.

Meine Fellow-Lecture am 5. April 2022 befasste sich mit der Frage: Was erforscht man, wenn man Sekten erforscht? Ein Beispiel und vier Antworten aus Russland des 19. Jahrhunderts. An einem ausgewählten Sektenbeispiel habe ich meinem interdisziplinären Publikum hoffentlich anschaulich zeigen können, mit welchen Themen, Quellen und Fragen ich tagtäglich zu tun habe, und was das Fach Osteuropäische Geschichte ausmacht. Ich habe mich sehr gefreut, dass mein Vortrag von Prof. Mathias Niendorf vom Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Greifswald moderiert wurde.

Im Rahmen der Zusammenarbeit mit Prof. Niendorf habe ich seine Doktorandin, Frau Melina Hubel kennengelernt, die auch im Kolleg tätig war. Wir haben gemeinsam ein Seminar zum Thema Wie und warum Osteuropa erfunden wurde. Geschichte und Wirkung eines Konzepts konzipiert, das im Wintersemester 2022/23 von uns gemeinsam an der Ruhr-Universität Bochum angeboten wird.

Zu meinen wichtigsten Partnern an der Universität Greifswald gehörte neben der Abteilung für Osteuropäische Geschichte auch der Lehrstuhl für Ukrainische Kulturwissenschaft von JProf. Roman Dubasevych. Vor dem Kriegsausbruch haben wir gemeinsame Lehr- und Forschungsprojekte im Bereich der breit verstandenen Abweichung in Osteuropa geplant. Knapp zwei Wochen vor dem Kriegsausbruch habe ich in diesem Kontext einen Call for Papers veröffentlicht. Es ging um Häresie, Nonkonformität, Dissidententum? Religiös motivierte Abweichung im neuzeitlichen Osteuropa. Geplant war ein Sonderheft der Zeitschrift für Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Auch diese Pläne wurden zunächst „aufs Eis gelegt“. Unsere Zusammenarbeit konzentriert sich zur Zeit auf Fachdebatten zur Neuausrichtung der Fächer Osteuropäische Geschichte sowie Ukrainistik und Slavistik infolge des Krieges.

Ein kleiner Vortrag von mir für meine Co-Fellows wird mir besonders in Erinnerung bleiben. Da wir im Winter 2022 wieder verstärkt von der Pandemie ausgebremst wurden und von zu Hause aus arbeiteten, trafen wir uns zu Fellow-Lunches in einer Zoom-Konferenz. Für jedes Treffen haben wir uns gemeinsam einen kleinen Vortrag eines Co-Fellows überlegt. Für den 24. Februar habe ich vorgeschlagen, etwas zur Geschichte der Ukraine zu erzählen. Als wir uns an dem Tag um 12 Uhr im Zoom trafen, waren wir schon von den Kriegsbildern erschüttert. Zu meinem Vortrag erschien auch Roman Dubasevych, der sich gerade im Spagat zwischen einer wissenschaftlichen Einordnung der Ereignisse und der existenziellen Rettung seiner eigenen Familie aus dem Kriegsgebiet befand. Obwohl die Osteuropaexperten in den letzten Jahren an eine Art Krisenberichterstattung gewöhnt waren, gehörten unsere Vorträge direkt nach dem 24. Februar zu den schwierigsten und emotionalsten überhaupt.

Zwei Artikel, die ich bereits vor dem Fellowship abgeschlossen habe, erschienen erfolgreich während meiner Zeit in Greifswald. Es handelte sich zum einen um einen vertieften Forschungsüberblick zu Sekten im Russländischen Imperium. Zum anderen befasste ich mich mit der Frage, in welchem Verhältnis die Sekten in Russland zu dem Judaismus und der jüdischen Kultur in Osteuropa standen. Die jüdisch-orthodoxen Verflechtungen, die sich bei einigen Sekten in Russland äußern, gehören nach wie vor zu Desideraten der Forschung und konnten mit meinem Artikel nur angerissen werden. In Gesprächen mit meinem Co-Fellow, Frau Prof. Judith Gärtner, habe ich mich jedoch vergewissert, dass meine Thesen von der Judaistik durchaus geteilt werden könnten, was für die Arbeit an meinem Projekt eine großartige Bestärkung war.

Es gab noch eine, zwar ungeplante, aber umso mehr erfreuliche Folge meines Aufenthalts in Greifswald. Befreit von tagtäglichen universitären Aufgaben (und in gewisser Hinsicht dank der pandemiebedingten Digitalisierung) konnte ich an mehreren Konferenzen und Vorträgen teilnehmen, die meine wissenschaftlichen Pläne nach der Habilitation konkretisiert haben. Im Kontext meiner bisherigen Arbeiten sowie der Beobachtung der aktuellen Politik in Polen und Russland habe ich mich zunehmend gefragt, welche Rolle die Rechtsgeschichte dieser Länder spielt, konkret: Welche Einstellung hatten einerseits die Eliten, andererseits die „gewöhnlichen Bürger“ zum Recht? Was verstanden sie in den letzten 300 Jahren unter Recht? Welche Werte und Normen wurden in dieser Zeit kodifiziert, welche nicht, und warum? Wie verliefen die Kodifizierungsprozesse, welche Debatten waren damit verbunden? Und schließlich: Inwieweit sind diese Traditionen vom „Westen“ beeinflusst, inspiriert worden – oder: Welche Rolle spielte „der Westen“ dabei? Meine Dissertation zum Begriff des Politischen in Polen 1976-1997 sowie mein Habilitationsprojekt liefern hierfür interessante Impulse, die ich in einem Folgeprojekt im Hinblick auf die Rechtsgeschichte weiterverfolgen möchte.

Nicht unerwähnt dürfen meine Gespräche mit Frau Prof. Bonas bleiben. Ihr kritischer, scharfer und situationsübergreifender Blick auf den Forschungsalltag sowie auf die Karrieremöglichkeiten hat mir sehr geholfen, meine Prioritäten für die nächste Zeit aufzustellen. Unsere Gespräche waren stets zwischen Sachlichkeit und Herzlichkeit ausbalanciert. Dank der Vertraulichkeit konnte ich Fragen ansprechen, die ich mich in meinem engen Arbeitsumfeld niemals getraut hätte zu stellen. Mein ganz herzliches Dankeschön dafür!

Zum Schluss möchte ich mich auf diesem Wege für die großartige Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kollegs sehr herzlich bedanken. Sie haben eine ruhige, vertrauensvolle, gut organisierte und dadurch produktive Arbeitsatmosphäre geschaffen, die ich sehr zu schätzen weiß.

Publikationen

  • Call for Papers: Häresie, Nonkonformität, Dissidententum? Religiös motivierte Abweichung im neuzeitlichen Osteuropa. Geplant als ein Sonderheft der Zeitschrift für Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung. Erschien am 11.2.2022, aufgrund des Krieges „aufs Eis gelegt“.
  • Sekten im Russländischen Imperium. Stand und Perspektiven der Forschung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1/2021, S. 102-125 (erschien im Mai 2022)
  • Rezension zu: Mathuber, Daniela: Körperkommunikation. Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie im frühneuzeitlichen Russland, Göttingen 2022, in: H-Soz-Kult [9.6.2022]
  • „Everyday Apocalypse: Russian and Jewish ‘Sects’ at the End of the 18th Century“ in: Apocalypse Now. Connected Histories of Eschatological Movements from Moscow to Cusco, 15th-18th Centuries. Edited by Damien Tricoire and Lionel Laborie. (erschien im August 2022 bei Routledge)