Professorin Dr. Katharina Bluhm

Alfried Krupp Senior Fellow
(Oktober 2020 - März 2021) 

  • Geboren 1961 in Leipzig
  • Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin
  • Universitätsprofessorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin

Fellow-Projekt: „Russlands konservative Wende. Akteure, Konzepte und Reichweite“

Das am Krupp-Kolleg durchgeführte Projekt ist Teil eines größeren Vorhabens, das sich der Genese und den Akteuren des neuen illiberalen Konservatismus in Russland, deren Ideen und praktischen Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik widmet. Mit dem Auftritt einer neuen Generation von Intellektuellen Anfang der 2000 Jahre verwandelte sich der Konservatismus vom politischen Stigma in eine positive Selbst-Beschreibung. Die neuen Konservativen bezeichnen sich als sozial oder national und stehen in Opposition zum Liberalismus und Kommunismus. Sie treten zumeist für einen Entwicklungsetatismus ein, der auf einen intervenierenden Zentralstaat setzt, ohne Marktwirtschaft und Privateigentum prinzipiell in Frage zu stellen. Sie haben lange Wladimir Putin gestützt, dessen Primat der Herrschaftssicherung jedoch in Spannung zur konservativen Modernisierungsagenda steht. Diesen Konflikt und die aus ihm hervorgehende Dynamik verfehlen große Teile der aktuellen Forschung, die sich auf die patrimonialen, personalisierten Machtstrukturen fokussiert, bei der Ideen allenfalls instrumentell gedacht werden.


Ergebnisse des Fellowships

Als Wladimir Putin 2007 in seiner berühmten Rede auf der Sicherheitskonferenz in München mit dem „Westen“ außenpolitisch abrechnete, gaben sich das erlesene Publikum und die westlichen Medien überrascht; als 2012 derselbe Präsident seine dritte Amtszeit antrat, die sich nur durch eine trickreiche Auslegung der Verfassung von 1993 legitimieren ließ, notierten westliche Experten eine „konservative Wende“. Mit der de facto Angliederung von Südossetien (2008), der Annexion der Krim (2014) und dem kaum verschleierten Krieg in der Ostukraine hat Russland den postsowjetischen Status quo aus den Angeln gehoben, bereit, den Bruch mit den USA als Garanten dieses Status in Kauf zu nehmen. Der offene Bruch mit dem „kollektiven Westen“ hat eine Publikationsflut über Russland ausgelöst. Auf einmal wollte man genauer wissen, was da vor sich ging.

Wie konnte es nach einem vermeintlichen „Frühling der Freiheit“ in den 1990er Jahren dazu kommen? Die Erklärungsangebote dafür sind vielfältig, aber meist mit einander verwoben: Das Trauma des Zerfalls eines Imperiums und Staates mit dramatischen ökonomischen und sozialen Folgen, die demokratiefeindliche politische Kultur, die ein Zurückgleiten in den Autoritarismus leicht macht, der Bonapartismus nach einer unvollendeten Revolution, das Versäumnis des „Westens“, Russland in die Weltordnung richtig einzubinden, so wie er es nach dem Ersten Weltkrieg versäumt hat, die Weimarer Demokratie in den 1920er Jahren einzubinden. Oft wird zudem auf die schleichende Machtübernahme des Sicherheitsapparates (silowiki) seit 2003 verwiesen, die zur Herrschaft eines kriminellen Syndikats, einer Kleptokratie oder gar zu einer proto-faschistischen Diktatur geführt habe, welche mit eiserner Faust das Land beherrscht. Dabei schwingt ein bisschen die Hoffnung mit, dass wenn Russland die Okkupanten abschütteln könnte, es erneut den Weg in Richtung „zivilisierte Welt“, sprich des Westens beschreiten werde.

Es sind die immer wiederkehrenden Spotlights an Aufmerksamkeit, die zum Überraschtsein des „Westens“ beitragen. In gewisser Weise ist aber auch die alte „Kremlastrologie“ aus den Zeiten des Kalten Krieges zurück, nicht zuletzt, weil die Forschung vor Ort zunehmend Restriktionen ausgesetzt ist, wenngleich heute sehr viel mehr Daten und empirische Studien über das Land zur Verfügung stehen als zur Sowjet-Zeit. Autoritarismus verführt zu einer Fokussierung auf eine scheinbar allmächtige Spitze, auf dessen Machtapparat, Propagandamaschine und vielleicht noch auf einige „Spindoktoren“, die die entsprechenden Stichworte liefern. Eine grundlegende Gefahr dieser Perspektive besteht darin, die personalisierte Struktur der Macht für bare Münze zu nehmen und eine Art Durchregieren zu unterstellen. Konfliktdynamiken, Lernprozesse, tektonische Verschiebungen in den Wahrnehmungen der politischen Klasse und der Intelligenzija Russlands, nicht-intendierte Konsequenzen von Entscheidungen bleiben dabei außen vor. Bis heute ist der grundlegende Streit um den richtigen Entwicklungsweg für Russland nicht beendet.

Die Monographie lenkt den Blick auf diese Konflikte um Ideen, Konzepte und politische Programme, die sich seit den 1990er Jahren entlang der Scheidelinie liberal versus konservativ, prowestlich versus antiwestlich formieren, modifizieren und sich immer wieder neu konstituieren. Sie untersucht die Neuerfindung des Konservatismus von einer anti-liberalen Bewegung, über ein Parteilabel für die Partei Geeintes Russland bis zu einem Staatskonservatismus. Um die tektonischen Verschiebungen in den Vorstellungen und deren praktische Konsequenzen vor allem in Hinblick auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik aufzuzeigen, wähle ich eine größere historische Perspektive, die mit der Perestroika in den 1980er Jahren einsetzt.

Brauchen autoritäre Regime Ideologie?
Die Theorie des modernen Autoritarismus besagt, dass autoritäre Regime keiner Staatsideologie bedürfen, was sie vom Totalitarismus unterscheidet. Hybride oder moderne autoritäre Regime verfügen über eine relativ große Offenheit gegenüber ihren Umwelten  (da sie z.B. das Reisen ins Ausland erlauben) und nutzen demokratische Wahlmechanismen zur Legitimation, eine besondere Idee als Bindekraft sei deshalb nicht erforderlich. Mehr noch, eine Staatsideologie wäre sogar schädlich, da sie die Fähigkeit der Herrschenden einschränkt, flexibel auf neue Situationen zu reagieren.  Autoritarismus wird allenfalls eine „traditionelle Mentalität“ und Patriotismus bzw. Nationalismus als eine „quasi-natürliche“ Begleiterscheinung eingeräumt.

Dieser Einschätzung liegt ein Verständnis von Ideologie als einer Weltanschauung mit umfassendem Anspruch zugrunde, die als Doktrin der politischen Klasse und Gesellschaft hegemonialen Anspruch erhebt, entsprechend gelehrt und vorgeschrieben wird. Ob nun als Werkausgabe, Lehrbücher oder als Fibel – diese Lehre ist fixiert und explizit. Ein solches traditionelles Verständnis von Ideologie verortet sich im Streit der großen Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts und entspricht nicht mehr dem modernen, neutralen akademischen Verständnis, das Ideologie eher im weiten Sinne als Überzeugungssystem, das Ursachen und Wirkungen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft, Diskurse zu dominieren sucht, Handlungsrelevanz beansprucht und sich in Relation zu anderen Überzeugungssystemen setzt. In diesem Sinne gibt es weder eine ideologiefreie liberale Demokratie noch einen ideologiefreien Autoritarismus.

Russland ist aber in den mehr als 20 Jahre Putinscher Regentschaft noch einen Schritt weitergegangen. Angesichts der radikalen Brüche in der russischen Geschichte gibt es keine Tradition, auf die sich autoritäre Herrschaft berufen kann, sie muss aus den Versatzstücken der Vergangenheit neu zusammengesetzt, neu erfunden werden. Dafür bietet der Konservatismus einige Vorteile, nicht nur weil er sich vom Liberalismus abgrenzt, ohne unter den Verdacht des Kommunismus zu geraten, sondern auch, weil konservatives Denken das historisch Konkrete und Situative betont, im hohen Maße flexibel ist und doch zugleich mit der Berufung auf die Tradition und damit direkt oder indirekt auf Religion einen festen Kern zu haben scheint. Erst spät wurde dieser Konservatismus zu einer Art Staatsideologie, die eine bestimmte Antwort auf die nationale Idee festzuschreiben sucht. Sie findet mit der neuen Verfassung von 2020 seinen vorläufigen Abschluss.  In Russland, aber auch in anderen postsozialistischen Gesellschaften hat sich zudem ein ultrakonservatives Milieu etabliert, das gestützt auf die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht müde wird, für seine Wertvorstellungen zu mobilisieren. In einer ansonsten entpolitisierten Gesellschaft, in der Abweichung von der Norm mit ebensolchen Misstrauen betrachtet wird wie der Staatsmacht, fungieren sie umtriebige Aktivposten der illiberalen Konservatismus, die keineswegs verschwinden werden, wenn es einmal anders kommt, so wie die christliche Rechte nicht mit der Abwahl Donald Trumps in den USA verschwunden ist.

Ideologie „matters“, und Russland ist dafür ein prominenter Fall, gerade weil das Land keinen gesellschaftlichen und erst recht keinen halbwegs gefestigten demokratischen Grundkonsens besitzt, den westliche Rechtspopulisten in Europa oder den USA in Frage stellen. Russlands Entwicklung nach 1990 ist ohne Ideologie nicht zu begreifen, und diese lässt sich nicht auf einen „Populisten an der Macht“ (Casula) reduzieren, der repressive Machttechniken mit einer hohen Sensibilität für die Stimmung im Volk verbindet – eine Sensibilität, die noch dazu dem Präsidenten mit zunehmendem Alter abhandenkommt.

Übergreifende Thesen
Bei meiner Arbeit an der Monographie habe ich vier Thesen präzisiert. Erstens, die „konservative Wende“ erfolgte nicht erst 2012 und ist auch kein Kunstprodukt, das sich einige „Spindoktoren“ ausgedacht haben, um Putins Macht nach den Straßenprotesten 2011-12 abzusichern. Bereits Ende der 1990er Jahre hat sich eine Gegenbewegung formiert, die an einem Alternativentwurf zur Reformpolitik unter Jelzin, der korrupten Privatisierung und zur Westintegration arbeiteten. Sie entdeckten für sich den Konservatismus als gemeinsamen ideologischen Rahmen. Treibende intellektuelle Kräfte waren Bewegungsideologen und -aktivisten, die sich einer „konservativen Gegenreformation“ verschrieben haben – so der Titel eines Bewegungsmanifests von 2005. Gegenreformation meint nicht die Restauration der sowjetischen Planwirtschaft, sondern eine „Alternative des sozialen Wandels“, bei der Staat „die Aktivitäten der reformistischen Zerstörer und Revolutionäre entschlossen zurückdrängt“, „die Souveränität und die nationale Identität Russlands gestärkt werden“ und die „Anti-Tradition“ der letzten Jahrhunderte beendet werde.[1] Ihr neuer russischer Konservatismus zielt auf Aktivierung und lehnt vor dem Hintergrund der russischen Erfahrung liberale repräsentative Demokratie als ungeeignet ab, die Interessen der Mehrheit zu vertreten. Dem Staat wiederum wird eine zentrale Rolle als Entwicklungsagent in der Wirtschaft beigemessen, wenn er denn von einer moralisch integren Elite geleitet werde und dem Gemeinwohl diene.

Entscheidend für das Verständnis der konservativen Gegenbewegung und deren Reichweite ist, so meine zweite These, dass deren Protagonisten zwar mit der Präsidentschaft Putins salonfähig und zum Teil in die politische Klasse kooptiert wurden, jedoch weiterhin im permanenten Konflikt mit anderen Elitefraktionen standen. Der Kreml reagierte auf sie mit einer schrittweisen Übernahme illiberal-konservativer Ideen und Konzepte, zunächst als Parteilabel für Geeintes Russland (2009). Mit dem Bekenntnis Putins zum Konservatismus 2012 erhielt er jedoch seine höchste staatliche Weihe und wurde Teil des autoritären Vorhabens, „von oben“ eine distinkte, konservative Identität der Nation bzw. „Staats-Zivilisation“ gegen den „Westen“ zu fixieren. Die lediglich selektive Übernahme von Ideen und Konzepte der illiberalen Konservativen brachte diese in ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Loyalität und Opposition zur Machtelite, und zwar vor allem, wenn es um die Wirtschafts- und Sozialpolitik geht, wovon wiederum Russlands Status als Großmacht und die als äußerst prekär angesehene „Einheit der Nation“ abhängen.

Der Kulturhistoriker Boris Groys bescheinigt der russischen Kultur eine „extreme Empfindlichkeit für die Unzufriedenheit des Westens mit sich selbst“. Sie suche gleichzeitig „Verbindung und Opposition zum Westen“. Diese Haltung prägt auch den heutigen russischen Konservatismus und seinen missionarischen Zug, der 2012/13 in der Hoffnung hervortritt, dass Russland mit Wladimir Putin an der Spitze eine Führungsrolle in einer neuen „Konservativen Internationale“ übernehmen könne. Auch wenn es um diesen Anspruch nach 2014 stiller geworden ist, trifft er auf Resonanz. Meine dritte These lautet: der neue russische Konservatismus lässt sich nicht als ideologischer „Sonderweg“ begreifen, sondern als eine spezifische Kombination von Motiven, Ideen und Konzepten innerhalb einer größeren illiberalen Bewegung.

Viertens, die illiberalen Konservativen verbanden mit ihrer Bewegung die Hoffnung, das historische Pendel der russischen Geschichte anzuhalten. Dieses Pendel schlage immer wieder in seine beiden Extreme aus: Eine unkritische und radikale Hinwendung gen „Westen“ auf der einen Seite, die nach entsprechender Enttäuschung zur Abkehr vom „Westen“ auf die andere Seite des Pendels schwingt, hin zu einem Besinnen auf den eigenen „inneren Osten“. Um im Bild zu bleiben, ist es eine historisch offene Frage, ob das Pendel noch einmal so weit nach „Westen“ schwingt wie während der Perestroika. Eines aber lässt sich heute bereits deutlich erkennen, dass mit dem Erstarren des russischen Staatskonservatismus und dessen repressiven Charakter seine Haltwertzeit begrenzt ist.

In der konzentrierten Atmosphäre des Krupp-Kollegs konnte ich zwei Teile der geplanten Monographie weitgehend fertigstellen. Das betrifft zum einen die Analyse der Genese und Akteure der konservativen Gegenbewegung im Kontext des sich konsolidierenden Regimes. Dabei zeichne ich den Weg von einer intellektuellen Bewegung über ein Parteilabel hin zu einem Staatskonservatismus nach, sowie die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche. Im zweiten Teil frage nach den Gemeinsamkeiten des neuen russischen Konservatismus, das heißt nach seinen Motiven, Ideen und Konzepten, die es erlauben bei aller Heterogenität von einer epistemologischen Gemeinschaft zu sprechen. Mein anschließendes reguläres Freisemester gab mir die Möglichkeit, einen weiteren Teil auszuarbeiten. Insgesamt blicke ich auf ein sehr produktives Jahr zurück. Auch wenn ich durch die Covid-Pandemie das Krupp-Kolleg nur in eingeschränkter Aktion erleben durfte, habe ich ihm es zu verdanken, dass die Monographie soweit Gestalt annehmen konnte. Meinen besonderen Dank gilt auch den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Kollegs, die uns umsorgt haben. Ebenso gern erinnere ich mich an die inspizierenden Spaziergänge mit Kollegiatinnen nach Wieck und zurück.

Ausgewählte Veröffentlichungen

  • 2021    Bluhm, K.: Sozialer Konservatismus und autoritäre Staatsräson in Russland, Religion & Gesellschaft in Ost und West, Heft 10, 13-15.
  • 2019      Bluhm, K.: Postmodernity and modernity as political terms in Russia’s New Conservatism, in: Uzlaner, D.; Suslov, M. (eds.): Conservatism in the Post-Soviet Context: Ideology, Worldview, or Moral Choice? Amsterdam: Brill. 128-150. DOI: 10.1163/9789004408005_006
  • 2019      Bluhm, K.; Varga, M. (eds.): New Conservatives in Russia and East Central Europe. London: Routledge.
  • 2018      Bluhm, K.: Entwicklung mit Tradition. Russlands konservative Gegenbewegung, Osteuropa, 68 (6), 67-81.

[1] Konstantin Krylov (2005): Konterreformacii. URL: https://www.krylov.cc/articles.php?id=99.