Privatdozent Dr. Kyung-Ho Cha

Alfried Krupp Junior Fellow
(Oktober 2020 - September 2021) 

  • Studium der Neueren Germanistik, Mediävistik und Philosophie an den Universität Bonn, Oxford University, Columbia University New York, Freie Universität Berlin und Technische Universität Berlin
  • Promotion (Neugermanistik/ Allgemeine Literaturwissenschaft) an der TU Berlin; Habilitation (Neugermanistik) an der Universität Bayreuth
  • akademischer Oberrat auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth

Fellow-Projekt: „Staatsangehörigkeit erzählen. Geschichten der Staatsangehörigkeit in Literatur, Theater, Film und Musik seit der deutschen Wiedervereinigung“

Das Projekt widmet sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit der deutschen Staatsangehörigkeit in Literatur, Theater, Film und Musik in Deutschland seit 1990. Wer ist ein deutscher Staatsbürger? Welche historischen, sozialen und kulturellen Normen liegen der deutschen Staatsangehörigkeit zugrunde? Wer gehört zu Deutschland? Diese Fragen werden seit der Wiedervereinigung intensiv diskutiert. Künstler*innen – vor allem, aber nicht ausschließlich Menschen aus Einwandererfamilien und People of Color – reagieren auf die öffentlichen Debatten: In ihren Kunstwerken kritisieren sie die fehlende Akzeptanz von Diversität in Teilen der deutschen Gesellschaft, beschreiben ihre eigenen Ausgrenzungserfahrungen und erfinden eine ideale deutsche Staatsbürgerschaft, mit der sie sich identifizieren können.


Ergebnisse des Fellowships

Die Staatsangehörigkeit regelt die formale Zugehörigkeit zum Staat. Ihr Zweck besteht in der Unterscheidung von Staatsangehörigen und Fremden. Sie bildet damit die Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft, die sich in den Rechten und Pflichten der Bürger:innen materialisiert. Die Staatsangehörigkeit kann als die äußere, während die Staatsbürgerschaft als die innere Seite des Verhältnisses der Bürger:innen zum Staat verstanden werden. Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft dienen somit dem Ausschluss und dem Einschluss von Menschen. Einerseits können mit der Staatsangehörigkeit die Fremden aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Andererseits ist die Staatsbürgerschaft mit dem Versprechen der Gleichheit verbunden, das integrierend wirkt, da alle Staatsbürger einander gleich an Rechten und Pflichten sind.

Die im Jahre 2000 in Kraft getretene Staatsangehörigkeitsreform beruht auf einem tiefgreifenden Wandel des Verständnisses von Zugehörigkeit. Vor der Reform basiert das Staatsangehörigkeitsgesetz im Wesentlichen auf dem Prinzip des ius sanguinis, das die Abstammung zum Hauptkriterium für den Erwerb der Staatsangehörigkeit vorsieht. Im Zuge der Gesetzesreform wird das Abstammungsprinzip durch das Territorialprinzip (ius solis) ergänzt. Auf diese Weise wird Personen mit Einwanderungsgeschichte die Teilnahme am politischen Leben ermöglicht, nachdem sie aufgrund der rechtlichen Hürden und des hohen Aufwands, der zuvor mit der Einbürgerung verbunden ist, von der Staatsbürgerschaft de facto ausgeschlossen werden.

Die Staatsangehörigkeitsreform stellt ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Die Reform verändert auch die Funktion der Staatsangehörigkeit: Von einem Instrument zur Wahrung der ethnisch-kulturellen Homogenität Deutschlands wandelte sie sich zu einem Instrument der Integration. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die Ängste in der Mehrheitsgesellschaft zunehmen. Diese Ängste betreffen insbesondere das, was als die deutsche Identität bezeichnet wird.

Wer ist eine Deutsche? Wer gehört zu Deutschland? Die Frage wird in der Öffentlichkeit seit der deutschen Wiedervereinigung intensiv diskutiert. Im Art. 116 des Grundgesetzes ist von einer Deutschen „im Sinne dieses Grundgesetzes“ die Rede. Die ethnische Herkunft spielt im Grundgesetz keine Rolle. Das Volk des Grundgesetzes ist eine rechtlich-politische und keine ethnische Gemeinschaft. Mit der Staatsangehörigkeitsreform wird die Einheit von ethnos, das ist die ethnisch-kulturelle Volksgemeinschaft, und demos, das ist das politische Staatsvolk, aufgelöst. Im Grundgesetz steht somit nichts über die kulturelle Identität der deutschen Staatsangehör:innen. Es basiert stattdessen auf dem pluralistischen Prinzip gesellschaftlicher Vielfalt.

Die identitätspolitischen Diskussionen zur deutschen Identität, die in der Öffentlichkeit seit der Wiedervereinigung geführt werden, verlassen den Bereich der Fragen, für die die Verfassung verantwortlich ist. Eine der Fragen, die in den öffentlichen Debatten häufig aufkommen, bezieht sich auf die kulturelle Identität Deutschlands und die kulturellen Grundlagen des Zusammenlebens.

Schriftsteller:innen, Publizist:innen, Film- und Theaterregisseure und Musiker:innen haben sich an diesen Diskussionen seit der deutschen Wiedervereinigung beteiligt, indem sie in ihren Texten, Theaterstücken, Filmen und Musikstücken von dem Leben deutscher Staatsangehörigen erzählen, die aus einer Einwandererfamilie stammen oder einer in Deutschland lebenden Minderheit angehören. In den meisten Fällen stammen sie selbst aus Einwandererfamilien oder sind Mitglied einer Minderheit. In ihren (auto-)biographischen und fiktionalen Erzählungen beschreiben sie erfolgreiche oder gescheiterte Versuche, ein Mitglied der deutschen Gesellschaft zu sein.

Das Forschungsprojekt Staatsangehörigkeit erzählen widmen sich diesen Geschichten und ihren unterschiedlichen narrativen Formen. Die literarischen und publizistischen Texte, Theaterstücke, Filme und Musikstücke werden künstlerische Interventionen in die öffentlichen Diskussionen über die Staatsangehörigkeit interpretiert.

Ein Beispiel für eine solche Intervention stellen die Essays Desintegriert Euch! (2018) und Gegenwartsbewältigung (2020) des Lyrikers, Publizisten und Aktivisten Max Czollek dar. Czollek warnt vor einem „Rechtsruck“ (Czollek 2020a, 72) in der deutschen Gesellschaft. Es handelt sich bei seinen Essays um zeitdiagnostische Texte, die den Anspruch haben, das Wesen der Gegenwart zu erfassen. In ihnen gehen Beschreibungen Hand in Hand mit normativen Forderungen nach einem gesellschaftlichen Wandel.

Czolleks Kritik richtet sich gegen rechte Parteien, die deutsche Staatsangehörige mit Einwanderungsgeschichte nicht als Deutsche anerkennen, weil sie ihrer Auffassung vom Deutschsein nicht entsprechen.

„Im Jahr 2018 wenden sich gewählte Volksvertreter wieder öffentlich an ‚das deutsche Volk‘ und schließen dabei bewusst Menschen aus, die zwar einen deutschen Pass, aber den falschen Glauben [d.i. der Islam] haben. Das ist Normalität in Deutschland.“ (Czollek 2020a, 11)

Angesichts der Tatsache, dass ein Viertel der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund den „deutschen Pass“ habe, komme es einer „groteske[n] Wirklichkeitsverweigerung“ gleich, wenn von den rechten Parteien und ihren Anhängern behauptet würde, dass

„man […] sich erst Deutsche*r qualifiziere, folge man einer deutschen Leitkultur. Die Vielfalt der Migrationsgeschichten, Begehren und Weltanschauungen ist längst Normalität in deutschen Städten.“ (Czollek 2020a, 74).

Die Diskriminierung von deutschen Staatsangehörigen, die wegen ihrer Herkunft als Bürger zweiter Klasse behandelt würden, beruhe auf der Annahme, dass

„es […] einen essentiellen Unterschied zwischen deutschen und nichtdeutschen Vorfahren, deutschem und nicht-deutschem Verhalten, deutscher und nichtdeutscher Kultur [gibt]. Eine direkte Folge dieser Unterscheidung ist, dass Menschen, deren Eltern aus Israel, der Türkei oder dem Senegal stammen, die muslimisch oder jüdisch sind, nicht auf dieselbe Weise behandelt werden wie Menschen, deren Eltern in Deutschland geboren sind. Selbst wenn Erstere einen deutschen Pass haben und Deutsch sprechen können.“ (Czollek 2020a, 64)

Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, fordert Czollek die Minderheiten auf, sich zu desintegrieren. Durch die Desintegration, worunter er die Weigerung versteht, sich in eine bestehende Ordnung einzufügen, werde die Gesellschaft diversifiziert.

„Das Konzept der Desintegration fragt nicht, wie einzelne Gruppen mehr oder weniger gut in die Gesellschaft integriert werden können, sondern wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann.“ (Czollek 2020a, 73f.)

In seinem weniger später erschienen Essay Gegenwartsbewältigung erweitert er seine Gesellschaftsdiagnose um eine historische Tiefenperspektive. Der gegenwärtige Rechtsruck sei das Symptom einer Renaissance eines ethnischen und sogar völkischen Denkens.

„In den letzten Jahren erleben wir die rasante Rückkehr völkischen, rassistischen und antisemitischen Denkens, das in Teilen auf eine über tausendjährige deutsche Tradition zurückblickt.“ (Czollek 2020b, 30.)

Unter Gegenwartsbewältigung begreift Czollek die Überwindung jener rassistischen und völkischen Vorstellungen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkten.

Für Czollek repräsentieren die Erfahrungen der in Deutschland lebenden Minderheiten eine wichtige Ressource für das Projekt der Gegenwartsbewältigung. Die migrantische und postmigrantische Kultur, für die die Erfahrung von Alterität und Diversität eine Normalität darstellt, bildet in seinem Essay den Ausgangspunkt für einen gesellschaftlichen Reformprozess. Er schlägt einen Perspektivwechsel vor, um Minderheiten nicht länger als vermeintliche Fremdkörper, die in eine Mehrheitsgesellschaft integriert werden müssen, anzusehen, sondern als den Ursprung einer neuen deutschen Kultur wahrzunehmen.

„Nicht die Beiträge jüdischer und anderer Minderheiten zur deutschen Kultur machen sie zu wertvollen Teilen der Gesellschaft, sondern ihre Perspektiven sind die Quellen, aus der diese sogenannte deutsche Kultur erst entsteht.“ (Czollek 2020b, 174)

Die landläufige Vorstellung von Integration, die eine Assimilation an die Dominanz- und Mehrheitsgesellschaft vorsieht, wird von Czollek kategorisch abgelehnt. Es gibt allerdings eine normative Idee, die er als Grundlage für die Integration aller Deutschen akzeptiert: das Grundgesetz. Czollek ist ein Verfassungspatriot, für den das Grundgesetz ein Narrativ darstellt, auf dessen Grundlage sich das Zusammenleben gestalten ließe. Das Grundgesetz sei eine „große[] Erzählung“, die  auf „der Gegner*innenschaft wider den Nationalsozialismus“ (Czollek 2020, 30) beruhe. In seiner Argumentation tritt er jenen entgegen, die von einem „vermeintlichen Mangel gesellschaftlichen Zusammenhalts und großer Erzählungen“ redeten. Sie seien sich, so Czollek weiter, offensichtlich nicht bewusst, dass die Bundesrepublik ihre historische Legitimation als „Staat“ aus ihrer Gegnerschaft zu den „gefährlichen politischen Denktraditionen“ (Czollek 2020, 30) der Vergangenheit bezöge.

Czolleks Essays stehen in einer Reihe von literarischen Texten, Dramen, Performances, Musikstücken und Filmen, die während des Forschungsaufenthaltes am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg untersucht werden. Diese Forschungsarbeiten sollen am Ende in eine Monographie einfließen. Die Arbeit an dem Buch hat von dem Austausch mit den Fellows und den Wissenschaftler:innen an der Universität Greifswald sehr profitiert. Entscheidende Anregungen zur Gegenwartsliteratur und den medialen Diskursen der Gegenwart erhielt ich von Prof. Eckhard Schumacher (Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie) und den Mitarbeiter:innen an seinem Lehrstuhl, denen ich an dieser Stelle noch einmal herzlich danken möchte. Die Zwischenergebnisse sind in einer Reihe von Vorträgen auf internationalen Tagungen diskutiert worden. Die Arbeit an der Monographie bildete zudem die Basis für einzelne Aufsätze, die weitere Aspekte des Forschungsthemas beleuchten.

Publikationen

  • „Staatsangehörigkeit erzählen. Geschichten der Staatsangehörigkeit in Literatur, Theater, Film und Musik seit der deutschen Wiedervereinigung“ (in Vorbereitung)
  • [Staatsbürgerschaft. Ein Gespräch zwischen Kyung-Ho Cha, Dieter Gosewinkel, Barbara John anlässlich der geplanten Ausstellung Staatsbürgerschaft im Deutschen Historischen Museum, in:Historische Urteilskraft. Magazin des Deutschen Historischen Museums, Bd. 4 (vorauss. 2022) (in Vorbereitung)
  • Literarische Dekolonisation. Race und gender in Sharon Dodua Otoos afrofuturistischer Novelle Synchronicity, in: Genre und Race. Mediale Interdependenzen von Ästhetik und Politik, hrsg. Irina Gradinari, Ivo Ritzer, Berlin/ Heidelberg (vorauss. 2021), 309– 325. (im Druck)
  • Postmigrant Melancholy. The Epistemic Injustice of the Educational System and the Critique of the Bildungsroman in Deniz Ohde’s Scattered Light, in: Epistemic Injustice and Global Humanities. Perspectives on Creative Agency, Literature and Epistemic Injustice, hrsg. Sarah Colvin, London: Routledge. (eingereicht)
  • Migrantische und postmigrantische Perspektiven auf die transnationale Einwanderungsgeschichte im Film, in: „Wir haben vergessen zurückzukehren.“ Gastarbeiter*innen im Zeitalter der Postmigration, hrsg. Maha El Hissy, Berlin: transcript (in Vorbereitung)
  • Social media und postmigrantische Narrative in Senthuran Varatharajahs „Vor der Zunahme der Zeichen“, in: Popliteratur 3.0? Soziale Medien und Gegenwartsliteratur, hrsg. Stephanie Catani, Christoph Kleinschmidt (in Vorbereitung)
  • The figure of the ‘bad migrant’ in the postmigrant high school drama in France and Germany, in: Interventions: International Journal of Postcolonial Studies (in Vorbereitung für peer-review-Verfahren)