Professor Dr. Dirk von Petersdorff

Alfried Krupp Senior Fellow
(April - September 2023) 

  • Habilitation 2003 an der Universität des Saarlandes ("Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts")

  • Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur und Mitglied im Graduiertenkolleg „Modell 'Romantik'. Variation – Reichweite – Aktualität"

  • Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena


Fellow-Projekt: Was heißt es, von „moderner Literatur“ zu sprechen? Versuch einer Neubestimmung des „Moderne“-Begriffs für die Literaturwissenschaft

Unter „Moderne“ verstehe ich eine Makro-Epoche, die von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht. Moderne Literatur ist jene Literatur, die aus den Bedingungen der modernen Gesellschaft hervorgeht und auf sie reagiert. Dieser inklusive, wenig normative und an andere Disziplinen anschließbare Moderne-Begriff soll für die Literaturwissenschaft produktiv gemacht werden. Denn er ermöglicht einerseits Einsichten in konstante Herausforderungen moderner Literatur und andererseits in die Vielzahl der Antwortmöglichkeiten auf diese Herausforderungen. So soll gezeigt werden, wie die Literatur (1.) auf ihre Abkoppelung von anderen Bereichen (‚Autonomie‘) mit einer intensiven Diskussion ästhetischer Programm reagiert. Den Verlust gesellschaftlicher Einheit beobachtet die Literatur (2.) sehr scharf und kann ihm Visionen einer zukünftigen Ganzheit entgegensetzen. Ebenso registriert sie (3.) die Vervielfältigung des Ideenguts in modernen Gesellschaften und stellt die Konkurrenz von Weltdeutungen dar. Auch eine autonom gewordene  Literatur kann sich (4.) in ein verpflichtendes Verhältnis zu Normen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen wie der Religion und der Politik setzen. Die Individuen, die in der modernen Literatur auftreten, können und müssen (5.) auf ihrem Lebensweg zwischen unterschiedlichen Optionen wählen und einen Lebenssinn setzen, der nicht mehr aus Selbstverständlichkeiten hervorgeht. In einer systematisch angelegten Studie sollen diese und andere Bedingungen und Antwortmöglichkeiten moderner Literatur an Beispielen vom ‚Sturm und Drang‘ bis in die Gegenwart dargestellt werden.


Ergebnisse des Fellowships

Mein Projekt habe ich im Sommersemester 2023 in Greifswald erst begonnen, so dass ich hier keinen Abschlussbericht vorlegen kann, sondern eher eine erläuternde Absichtserklärung. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die der Kultur seit den späten 1970er-Jahren, und damit verbunden meine eigene Geschichte. Kultur wird im weiteren Sinn verstanden, der neben Literatur, Film, Architektur und Musik auch das Nachdenken über Lebensformen, Überzeugungen oder typische Gefühlssituationen umfasst. Der Beginn in den 1970er-Jahren entspricht der These der neueren Geschichtswissenschaft, dass die Konstellation der Gegenwart sich in dieser Zeit herausbildet (Ulrich Herbert, Andreas Rödder, Philipp Sarasin, Frank Bösch).

Die Verbindung von allgemeiner und individueller Geschichte werde ich so herstellen, dass ich z.B. Lyotards Diagnose vom Ende der großen Erzählungen (1979) kurz erläutere und dann schildere, wie es mir als Jugendlichem (natürlich noch ohne alle Begriffe) ergangen ist: warum mich große politische Erzählungen nicht mehr anziehen konnten, wie ich die ersten Zeichen von Fortschrittsskepsis und neuem Naturbewusstsein erlebte oder wie ich mich später aus den Zwängen des ästhetischen Modernismus befreien konnte.

In dieser Weise, die Elemente des Sachbuchs mit literarischen Erfahrungsberichten verbindet, wird dann zum Beispiel auch das Epochenjahr 1989 erfasst, und im weiteren Fortgang sollen auch besondere kulturelle Produkte als Zeitzeugnisse vorgestellt werden: etwa Frank Gehrys ‚tanzendes Haus’ in Prag, das für Veränderungen in der Zeichensprache der Architektur steht, oder Fotos von Wolfgang Tillmans, die das sinnliche und angstbefreite Leben in den 90er-Jahren veranschaulichen. Gleiches gilt für Autoren und Werke der philosophischen oder soziologischen Theorie; hier will ich z.B. erklären, warum ich Luhmanns Gesellschaftstheorie sofort plausibel fand, als ich sie in den ersten Ansätzen kennenlernte.

Insgesamt erscheint so eine kulturelle Situation, die im Zeichen von Freiheit und Unsicherheit steht: einer Freiheit in den Lebensentscheidungen und einer Unsicherheit, die sich aus der Vervielfältigung von Normen und der Schwächung von geschlossenen Weltanschauungen ergibt. Auf diese Situation kann man regressiv oder sentimentalisch reagieren, aber im Gegensatz dazu, werde ich dafür plädieren, sie zu akzeptieren und als Chance zu verstehen. Am Schluss des Buchs möchte ich daher gegenwärtige literarische Versuche vorstellen, unter diesen fluiden Bedingungen doch so etwas wie Zugehörigkeit oder eine stabilisierende Lebensform zu finden. Dies geschieht an Texten von Herta Müller (Nobelpreisrede), Saša Stanišić („Herkunft“), Benjamin von Stuckrad-Barre („Panikherz“), Judith Hermann („Daheim“) und anderen. Auch eine eigene Poetik werde ich hier kurz darstellen. Der Umfang des Buchs sollte zwischen 150 und 200 Seiten liegen. 

Soweit zur Anlage des geplanten Buchs. In der Zeit im Alfried-Krupp Kolleg habe ich nach einer längeren Recherche- und Lesephase etwa 40 Seiten schreiben können. Begonnen habe ich mit den ‚großen Erzählungen‘, wie Lyotard sie nennt. Sie haben eine Notwendigkeit im Geschichtsverlauf postuliert und konnten eine Einheit der Phänomenwelt herstellen, wenn man an sie glaubte. Gleichzeitig neigten sie aber zu Ausschließungsmechanismen und zur Rechtfertigung von Gewalt, um die jeweilige geschichtliche Notwendigkeit durchzusetzen. Mit ihrem Ende sieht Lyotard eine neue Einstellung heraufziehen, eine „Sensibilität für Unterschiede“ und eine Akzeptanz von Minderheitenpositionen. In den autobiographischen Teilen dieses Buchkapitels berichte ich von meinen frühen Eindrücken des Sozialismus, der für mich nie etwas Verheißungsvolles hatte: Das war der erste Anblick der Mauer und der innerdeutschen Grenzanlagen. Hinzu kamen Erfahrungen mit dem autoritären Charakter der DDR sowie das düstere Bild der späten Sowjetunion. Der Aufstand der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen führte dagegen die Möglichkeit vor, dass sich scheinbar eiserne Verhältnisse aufweichen ließen.

Die zweite große Erzählung war die vom Fortschritt durch immer perfektere Naturbeherrschung. Hier stellt das Erscheinen des Buchs „Die Grenzen des Wachstums“ einen ersten Einschnitt dar. Im autobiographischen Teil erzähle ich von der Ölkrise 1973 und ihrer Wirkung im Familienalltag, von der Faszination durch die Atomenergie (auch im Bericht „Die Grenzen des Wachstums“) bis zur völligen Umkehr dieser Einschätzung durch die Katastrophe in Tschernobyl, die zur Belastung alltäglicher Lebensmittel führte. Im Anschluss stelle ich das erwachende Umweltbewusstsein dar, wie es im Schulunterricht der 1980er-Jahre vermittelt wurde.

Die dritte Erzählung handelte vom Fortschritt und der Entwicklungsnotwendigkeit der Künste. Hier beginne ich mit den Gesetzen und Regeln, die Theodor W. Adorno maßgeblich für den ästhetischen Diskurs der Bundesrepublik formulierte. Einsprüche dagegen wirkten befreiend, etwa derjenige von Leslie Fiedler, der in seinem Essay „Cross the border, close the gap“ die Grenzziehung zwischen Hoch- und Populärkultur in Frage stellte. Ebenfalls eine starke Wirkung hatten die ersten Begegnungen mit der postmodernen Architektur, die nicht mehr der Fortschrittslogik folgte. Dass die alten Einteilungen von ästhetisch progressiv und regressiv nicht mehr griffen, zeigte sich auch daran, dass im neu entstehenden Hip-Hop lustvoll mit dem scheinbar zum Absterben verurteilten Reim gearbeitet wurde. Der Film „Zurück in die Zukunft“ brachte mit seinem Titel die Situation in den Künsten auf eine Formel. Die Gegenwartskunst stellte sich seit den 1980er-Jahren immer stärker als ein Nebeneinander ganz verschiedener Stile und Konzepte dar.

In der Phase nach dem Ende der großen Erzählungen konnte die „Differenz“ zu einem ersten Leitbegriff werden. Ich lernte sie im Studium in Form der philosophisch-linguistischen Differenz von Jacques Derrida kennen. Die Ideen, dass Texte kein Zentrum besitzen müssen, dass das scheinbar Normale dazu gemacht worden ist und dass wir zweifelnd mit scheinbar fertigen Deutungen umgehen sollen, fand ich faszinierend. Als näher an meinen Erfahrungen in der Gesellschaft nahm ich aber die Systemtheorie Niklas Luhmanns wahr. Seine Vorstellung, dass Theorien nicht mit Einheit beginnen sollten, sondern mit Differenz, und auch nicht mit Einheit enden sollten, sondern mit einer besseren Differenz, wirkte befreiend. Genau diese Differenz nahm ich auch in meiner Umgebung wahr; schon, wenn ich mich im Uni-Seminar umsah, saßen da höchst verschiedene Lebensstile und Überzeugungen nebeneinander, ohne dass an eine zukünftige Einheit zu denken gewesen wäre. Befreit vom Ballast der Ideologien konnte sich ein Lebensgefühl der Leichtigkeit entwickeln, das ich an verschiedenen Alltagszenen vorführe.

Als bisher letzten Teil konnte ich das Kapitel zum Epochenjahr 1989 beginnen. Das völlig unerwartete Ereignis der Öffnung der Grenzen zeigte, dass Geschichte weder prognostizierbar noch steuerbar verlief. Wie umstürzend dieses Ereignis für die Ordnung Europas war, zeigt schon ein Blick in Atlanten der 90er- und 2000-Jahre. War die Landkarte Europas vorher Jahrzehnte stabil, geriet sie jetzt dauerhaft in Bewegung. Am Beispiel einer Reise nach Prag in den frühen 90er-Jahren stelle ich die Euphorie der Nachwendezeit dar.
Die weiteren Planungen sehen so aus, dass ich das Manuskript im Herbst 2024 in einer Rohfassung abschließen kann. Je nach Überarbeitungsbedarf ist eventuell an ein Erscheinen im Herbst 2025 zu denken. Der Verlag C.H. Beck hat bereits sein Interesse bekundet.