Professor Dr. Riccardo Nicolosi

Alfried Krupp Senior Fellow
(April 2024 - September 2024) 

Fellow-Projekt: „Von Gorbačev bis Putin. Politische Rhetorik im spät- und postsowjetischen Russland“

Die Rhetorik, die Theorie und Praxis vereinende Kunst der Rede, ist die älteste und wirkmächtigste Form der Kopplung von Sprache und Politik. Sie ist nicht nur Produktionsanleitung persuasiver Oratorik, sondern auch Analyseinstrument des politischen Diskurses. Mithilfe der Erkenntnisse der modernen Rhetorikforschung will das Buchprojekt die politische Rhetorik im spät- und postsowjetischen Russland in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf den Reden politischer Funktionsträger und deren medialer Inszenierung liegt. Der Fokus richtet sich in erster Linie auf die gegenwärtige politische Rhetorik in Putin-Russland, wobei besondere Aufmerksamkeit der argumentativen Begründung des Krieges gegen die Ukraine gewidmet wird. Die aktuelle russische politische Rhetorik soll systematisch und historisch analysiert werden: systematisch in Bezug auf verschiedene Aspekte wie Gattungsformen, Medialität, Inszenierungsstrategien und theoretische Reflexion; historisch vor allem unter Berücksichtigung der Transformationsprozesse des politischen Diskurses in der späten Sowjetunion und im frühen postsowjetischen Russland im Spannungsfeld von Autoritarismus und Parlamentarismus. Das Projekt wird von der These geleitet, dass die aktuelle totalitaristische Zuspitzung monologisch-autokratischer Rhetorik in Russland zwar die Kulmination eines langen Prozesses darstellt, dass aber dieser Prozess keineswegs deterministisch verlaufen ist. Vielmehr wies die politische Rhetorik selbst in der Putin-Zeit dialogische Elemente auf, denn die kremlgesteuerte Propaganda befand sich in einem Prozess permanenter situativer Anpassung und Auslotung zwischen einerseits der lokal verorteten Rhetorik in den Provinzzentren, andererseits den medial innovativen Strategien der Opposition.