Professor em. Dr. Christoph Schulte

Senior-Fellow, Oktober 2025 bis September 2026
Universität Potsdam

  • Professor für Philosophie und Judaistik seit 2001
  • Fellow und Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in Europa, Nordamerika und Israel (1988-2025)
  • Pluridisziplinärer Ansatz zur modernen jüdischen Geistesgeschichte
  • Caspar David Friederich-Fan seit Gymnasialzeiten

Fellow-Projekt: „Fortschrittsskepsis bei jüdischen Intellektuellen der Moderne“

Ziel meiner Bewerbung als Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald für das akademische Jahr 2025/26 (12 Monate) ist es, meine in Forschung und Lehre, sowie durch Forschungskooperationen und Gastprofessuren lange vorbereitete Monographie mit dem Arbeitstitel „Fortschrittsskepsis bei jüdischen Intellektuellen der Moderne“ während meines einjährigen Aufenthalts in Greifswald mit den Kolleg:innen des Kollegs und der Universität Greifswald zu diskutieren und als Typoskript abzuschließen.
Das Buch wird chronologisch aufgebaut sein und hat zwei Teile. Es beginnt mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Einleitung zur Geschichtsphilosophie und ihrer Kritik nach dem Zweiten Weltkrieg. So wird u.a. bei von Karl Löwith (Meaning in History, 1949) und Jacob Taubes (Abendländische Eschatologie, 1947) die fortschrittsoptimistische Geschichts-philosophie zwischen Voltaire, Lessing, Kant, Hegel und Marx als eine verfehlte, säkularisierte christliche Geschichtstheologie analysiert, aber diejenigen jüdischen Autor:innen, welche diese moderne Geschichtsphilosophie lange zuvor material kritisierten, gar nicht behandelt. Das ist das Forschungsziel des vorliegenden Projekts.
Im ersten Teil des Buchs beschreibe ich den Widerstand jüdischer Philosophen und Rabbiner von Mendelssohn bis Franz Rosenzweig gegen die christlich geprägte Geschichtsphilosophie insbesondere Lessings und Hegels, wo das antik-biblische Judentum weltgeschichtlich durch das Christentum abgelöst und moralisch wie religiös ‚überwunden‘ wird. Das rabbinische Judentum fällt dabei gänzlich unter den Tisch. Der jüdische Widerstand gegen solchen christlich-philosophischen Supersessionismus wird in Kapiteln über Mendelssohn, Heine, Nachman Krochmal, Samuel Hirsch und F. Rosenzweig exemplarisch analysiert und geschildert.
Im zweiten Teil analysiert das Buch in Kapiteln über Th. Lessing, W. Benjamin, Horkheimer und Adorno, L. Strauss, H. Arendt und G. Anders deren spezifische Kritik am technologischen Fortschritt. Denn in den Materialschlachten des I. Weltkriegs und im industrialisierten Massenmord der Shoah, aber auch in der Atombombe, manifestierte sich die destruktive Seite des technischen Fortschritts ebenso wie die fortschreitende Ausbeutung und Zerstörung der Natur und des Menschen: Fortschritt nicht als säkularisierte Heilsgeschichte, sondern, invertiert, als moderne Unheilsgeschichte und Verblendungszusammenhang. Das spezifisch Jüdische in der politisch durchaus disparaten Fortschrittsskepsis dieser Autor:innen ist nicht mehr eine Kritik der christlichen Geschichtsphilosophie, sondern die bei ihnen reflektierte jüdische Erfahrung von Totalitarismus und Exil, und insbesondere die Erfahrung des Antisemitismus: Kein Fortschritt der Moderne hat es vermocht, den Antisemitismus aus der Welt zu schaffen.