Für einen strukturalen Realismus. Von Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss zu Hubert Fichte

Zu den tradierten Übergängen zwischen Kunst und Leben gehören zweifellos die verschiedenen Spielarten des Realismus, die in den Künsten mindestens seit dem 19. Jahrhundert als Stil und teilweise auch als Epoche prominent werden. Wer bei diesen Realismen allerdings – eher konventionell – von einem bloßen Abbildungsbegehren der KünstlerInnen ausgeht, wird spätestens in den Künsten des 20. Jahrhunderts mit Beispielen eines nicht-mimetischen Realismus konfrontiert, die die vorausgesetzte Trennung zwischen Kunst und Leben (respektive Kunst und Wirklichkeit) unterlaufen. Dies geschieht in den Künsten etwa durch den Einsatz des Experiments und dem Fokus auf Intervention, aber es wird grundsätzlicher noch getragen durch die Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins der Künste und der Geisteswissenschaften gegenüber den vermeintlich ‚objektiven‘ und ‚mathematisch-formalen‘ Naturwissenschaften. Von zentraler Bedeutung hierfür ist der Strukturalismus (in Linguistik, Ethnologie und anderen Disziplinen), der nicht nur den Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaften rehabilitiert, sondern auch die realistischen Impulse in der Literatur neu ausrichtet, und zwar auf einen ›strukturalen Realismus‹ (Hubert Fichte). Diese Kopplung von Realismus und Strukturalismus versteht sich allerdings keineswegs von selbst: Seit Roland Barthes‘ programmatischem Text Der Wirklichkeitseffekt wurden beide als Gegensätze behandelt. Von der produktiven Verbindung zwischen Strukturalismus und Realismus und der damit einher gehenden neuen Relation zwischen Literatur und Wirklichkeit handelt der Vortrag.

Karin Krauthausen ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit einem Fokus auf epistemologischen und praxeologischen Fragen. Nach ihrer Promotion zu Zeichnen und Sehen bei Paul Valéry war sie mehrere Jahre Fellow am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, bevor sie 2011 die Koordination des PhD-Net Das Wissen der Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm und 2013 in den Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor der Humboldt-Universität wechselte. Im Exzellenzcluster leitete sie bis Dezember 2018 den Schwerpunkt Active Matter – zusammen mit dem Materialwissenschaftler Peter Fratzl, dem Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner und dem Mathematikhistoriker Michael Friedman. Seit Januar 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Exzellenzcluster Matters of Activity an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren drei wichtigsten Publikationen der letzten Jahre zählen: Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs (2010), Hubert Fichtes Medien (2014) und Make it real. Für einen strukturalen Realismus (2020).

Moderation: Professor Dr. Eckhard Schumacher


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