Mörderische Identitäten?

Die 14-tägige Sommerschule „Ukrainicum“ führt jedes Jahr eine Vielzahl von Slavistik-Dozenten und –studenten an das Greifswalder Kolleg.

Während der innerukrainische bzw. russisch-ukrainische Krieg meist mit geopolitischen und wirtschaftlichen Faktoren erklärt wird, erfährt der „Kampf der Kulturen“, der diesem Krieg vorausging, wenig Beachtung. Das kommende Ukrainicum, das den Titel „Murderous Identites?“ trägt, möchte diesem Umstand Rechnung tragen und fragen, ob es zwischen der jetzigen Ukraine-Krise und einer bestimmten Identitätsauffassung einen Zusammenhang gibt. Welche Formen der Zugehörigkeit führen zur Ausgrenzung und kriegerischen Auseinandersetzungen? Letztlich welche Dynamik bringt der aktuelle Krieg in die Identitätsdebatte der Ukraine und der Nachbarländer hinein?

Den Auftakt zu der Antwortsuche gibt der Vortrag des namhaften Russland- und Ukraine-Historikers Prof. Andreas Kappeler, der die russisch-ukrainische Verflechtungs- und tragische Entflechtungsgeschichte verfolgen und über seine persönlichen Erfahrungen als Vermittler in diesem Prozess berichten wird. Der renommierte ukrainische Historiker Georgiy Kasianov wird sich in seinem Seminar mit der Instrumentalisierung der Vergangenheit, insbesondere mit ihrer „Nationalisierung“ und „Ethnisierung“ befassen.

Eine der zentralen Fragen für den innerukrainischen und russisch-ukrainischen Dialog bleibt sicherlich die Sprachfrage, der die kanadische Linguistin und Anthropologin Prof. Laada Bilaniuk nachgehen wird. Ist der bestehende ukrainisch-russische Bilingualismus eine Bedrohung? Wie veränderte sich das sprachliche (Un)-Gleichgewicht seit dem Euromaidan und Ausbruch des Krieges? Wie lässt sich das paradoxe postrevolutionäre Nebeneinander von einer Öffnung gegenüber dem Russischen und gleichzeitig seiner Zurückdrängung erklären?

Die Koexistenz beider großen Kulturen und ihre Spiegelung im Literaturkanon wird im Zentrum des literatur- und kulturwissenschaftlichen Seminars von JProf. Roman Dubasevych stehen. Dabei geht er der Frage nach dem Verhältnis von „Kanon und Kanonen“ nach und welche Bilder des Anderen zur Konfrontation und Marginalisierung führten und führen?

Die drei Seminare werden traditionell durch Ukrainisch-Sprachkurse (vormittags) und das Abendprogramm ergänzt. Im Vortrag der Direktorin des Zentrums für Stadtgeschichte Mittel- und Osteuropas aus dem westukrainischen L’viv Dr. Sofiya Dyak wird es um die Wiederentdeckung und Pflege der Erinnerung an die multikulturelle Vergangenheit der Stadt L’viv gehen.

Der künstlerische Umgang mit dem „Trümmerhaufen der Geschichte“, insbesondere die Suche nach den verlorengegangenen Wandmalereien des polnisch-jüdischen Kultautors Bruno Schulz, bildet das Hauptthema des Dokumentarfilms des Hamburger Filmemachers Benjamin Geissler, der persönlich die Aufführung mit anschließender Diskussion begleitet. Das unerwartete Finden der jahrzehntelang verschollenen Wandmalereien zeigen eindrücklich, wie viel noch bei der Rettung des multikulturellen Erbes der Ukraine zu tun ist und wie leicht es durch nationale Aneignungsversuche zerstört werden kann.

Die ausführliche Diskussion der ideologischen Aspekte wird durch einen Einblick in ihre wirtschaftliche „Basis“ ergänzt – Prof. Margarita Balmaceda hält einen öffentlichen Vortrag über die Neuordnung der ukrainischen Energiewirtschaft, vor allem nach der Besetzung des kohlereichen Donec’kbeckens durch die umstrittenen „Volksrepubliken“.

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